Unsere Roots

Ein Beitrag von Dieter Bamberg und Maike Rönnert

Am Anfang war eine Idee

Es war im Jahre 1987, als Herr Günther HERMANN die Idee hatte, eine Wohngruppe für Menschen zu schaffen, die an Multipler Sklerose litten und auf Unterstützung im Alltag angewiesen waren.

Günther HERMANN war zu dieser Zeit Sozialarbeiter bei der Bayerischen Multiple Sklerose Gesellschaft (die später in der DMSG aufging). Er erlebte immer wieder, dass die Familien der von MS betroffenen Menschen an ihre Grenzen kamen. Er sah, dass die Erwartungen an die Familien von diesen nicht zu erfüllen waren, die Pflege rund um die Uhr, die hauswirtschaftliche Versorgung und die administrative Koordination optimal zu leisten. Zudem sollten die Familien ja auch noch die Teilhabe der an MS erkrankten Menschen am gesellschaftlichen Leben organisieren und sicherstellen.

Damit war die Überforderung der meisten Familien vorprogrammiert. Es gab aber damals auch für junge MS-Patienten lediglich eine Alternative zur Betreuung in der Familie: Die Betreuung in einem Pflegeheim, in dem überwiegend alte Menschen lebten.

Erste Arbeitsschritte

Günther HERMANN erkannte, dass jüngere, aber auch ältere MS-Patienten kognitive, motorische und soziale Ansprüche haben, die ein besonderes Setting benötigten. Er erfuhr von dem „Projekt Integriertes Wohnen“, das die GEWOFAG initiiert hatte. Flugs handelte er mit der GEWOFAG einen Mietvertrag für eine der Wohnungen aus, die zu dem Projekt gehörten: Es war eine barrierefreie 4-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß des Hauses in der Taschnerstr. 14. Dort sollte jeder und jede der drei Bewohnerinnen bzw. Bewohner ein eigenes Zimmer bewohnen. Außerdem sollte der vierte Raum abwechselnd als Raum für die Unterstützer, als Büro und als Wohnzimmer zu nutzen sein. Die Terrasse sollte als Aufenthalts-bereich im Freien zur Verfügung stehen.

Alltag in der WG

Die Bayerische Multiple Sklerose Gesellschaft war anfangs der Hauptmieter der Wohnung, später dann die DMSG; die Bewohner waren die Untermieter der Wohnung.

In den ersten Monaten des Jahres 1988 zogen zwei Männer und eine Frau in die Wohnung ein, anfangs noch von Zivildienstleistenden, Pflegepraktikanten und einem Pfleger unterstützt. Günther HERMANN übernahm die Planung und Organisation des Projektes. Es wurde gemeinsam gekocht und gefeiert, Freizeitpläne wurden gemeinsam geschmiedet und realisiert.

Bald nahmen bei den ersten beiden WG-Bewohnern und der WG-Bewohnerin die durch die MS verursachten Einschränkungen immer mehr zu. Es wurde notwendig, die Zahl der Pflegekräfte und der weiteren Unterstützer zu erhöhen, um für die Drei in der WG eine gute Lebensqualität sicherzustellen.

Daraus entwickelte sich – bald auch ohne Günther HERMANN – ein Pflege- und Unterstützerteam, das im Zusammenwirken mit den Bewohnern die Zuständigkeiten und Dienstplanungen eigenverantwortlich und gleichberechtigt koordinierte und die notwendige Arbeit leistete.

Diese Organisationsform hat sich als sinnvoll erwiesen – und sie hat sich im Übrigen bis heute bewährt. Als 1995 die Pflegeversicherung eingeführt wurde, war es erforderlich, sich einem Pflegeverein anzuschließen. Das Pflege- und Unterstützerteam entschied sich daraufhin für den gemeinnützigen Verein VIF – Vereinigung Integrations-Förderung e.V. Der Verein übernahm die fachliche Aufsicht, sorgte für qualitätssichernde Angebote und erledigte für das WG-Pflege- und Unterstützerteam die Gehaltsbuchhaltung sowie die Abrechnungen mit den Kostenträgern.

Auch hier gilt: Die Kooperation mit der VIF hat all die Jahre gut funktioniert und dauert deshalb bis heute an.

Resümee

Die Wohngemeinschaft besteht seit mehr als dreißig Jahren. Der „harte Kern“ des Teams, das die WG-Bewohner in allen Belangen rund um die Uhr unterstützt, ist seit ungefähr dreißig Jahren für die WG tätig. Neben dem „harten Kern“ gehören auch Pflegekräfte und andere Unterstützer zum Team, die z.B. in Notsituationen aushelfen. Immer wieder entscheidet sich von denen jemand dafür, sich längerfristig für die WG-Bewohner zu engagieren.

Wenn Bewohner und Unterstützer diese Entscheidung einhellig begrüßen, steht diesem Engagement nichts im Wege.

Auch die Entscheidung über die Aufnahme neuer Bewohner wird von den WG-Unterstützern und WG-Bewohnern gemeinsam getroffen.

Dieses MITEINANDER zeichnet die Wohngemeinschaft seit jeher aus. Von 1988 bis 2021 haben zwei Bewohnerinnen und dreizehn Bewohner in der WG gelebt.

Jeder WG-Bewohner entscheidet zunächst darüber, ob das Setting der Wohngemeinschaft für ihn das Richtige ist oder nicht. In Wechselwirkung mit den Unterstützern in der WG werden diese es positiv bewerten, wenn der Response eines WG-Bewohners von dessen Zufriedenheit zeugt.

Zwei Bewohner und eine Bewohnerin haben sich in all den Jahren entschlossen, aus der WG auszuziehen, weil sie für sich eine andere Wohnform präferiert haben. Die WG-Unterstützer haben ihnen dabei geholfen, ihre Pläne zu realisieren – und den Umzug organisiert.

Die Verweildauer der zwölf Bewohner, die sich für einen langfristigen Aufenthalt in der WG entschieden haben, ist sehr unterschiedlich. Ein Bewohner hat z.B. 16 Jahre lang in der WG gelebt, ein anderer 14 Jahre.

Die WG-Bewohner wissen, dass sie solange sie wollen in der WG bleiben können. Sollten sie bis zu ihrem Tod bleiben wollen, so ist dies möglich.

Die Unterstützer sind in all den Jahren, in denen sie für die WG-Bewohner tätig waren, zu Experten in Sachen Multipler Sklerose geworden.

Sie wollen weiter autonom, feinfühlig, wertschätzend und zuversichtlich ihr Wissen und ihre Sensibilität in die Pflege- und Sorgearbeit einfließen lassen.

Unser neu gegründeter Verein „IPA – Inklusionsprojekt Autonomie im Alltag“ will es zudem möglich machen, dass dieses Wissen und diese Expertise an Interessierte weitergegeben werden können.